DEBORAH WHEELER
Eine einzige Seele
In dieser Sommersonnwendnacht lief eine sanfte Brise durchs Steppengras und flüsterte den in ihren Zelten schlummernden aschkantianischen Nomaden in ihre tiefsten Träume. Gen Osten ragten steil und still die Berge, deren höchste Gipfel bloß noch Schnee und Eis bedeckten. Und von dem einsamen Hügel zu ihren Füßen sandte ein Sonnwendfeuer aus einem uralten Steinkreis Rauchwölkchen zum Himmel auf.
Ein bejahrter Enaree in seiner Robe voll magischer Zeichen, fein mit Gold- und Blutsafranfäden aus dem fernen Meklavan ausgeführt, mühte sich zur Spitze des Hügels hinauf.
Dort oben empfingen ihn zwei blutjunge Frauen, die einander glichen wie ein Ei dem anderen. Das flackernde orangefarbene Licht des Feuers ließ ihre braune Haut wie Bronze wirken. Sie trugen beide ärmellose Kamelhaarwesten, die mit dem Zeichen ihres Stammes, einer Löwin, bestickt waren, und dazu kurze, stark gekrümmte Bogen.
Seylana, um zehn Minuten die jüngere dieser zwei, trat vor. »Wir haben alles bereitet, wie du es gewünscht hast«, sagte sie und deutete mit dem Kopf auf das Feuer, auf die Kessel mit Totenkopf- und Oriennawurz und auf den über seine Trommeln gebeugten jungen Mann.
»Ihr, meine Töchter, habt es so gewünscht«, erwiderte er in merkwürdigem Singsang, den er mit komplizierten Gesten der erhobenen Hände begleitete. »Denn ihr habt nicht gewünscht, so geboren zu werden, wie ihr es wurdet: als eine in zwei Körper geteilte Seele, sondern ihr habt gewünscht, wieder vereinigt, eins zu werden. Die Gefahr solchen Wandels ist groß: die Gefahr, zu sterben oder wahnsinnig zu werden. Die Gefahr, die von den Geistern droht, die im Dunkel der Eklipse lauern.«
Meriadess, an der Seite ihrer Schwester, schauderte. »Qr …«, flüsterte sie, diese einzige Silbe nur.
»Das ist doch nur ein altes Märchen«, fuhr Seylana auf, biss sich dann auf die Lippen. »Es muss sein … Welcher Clan würde dem Skorpion als Totem folgen?«
Der Enaree schüttelte den Kopf. »Bei Sonnwende, zur Zeit der Finsternis, werden die Wände zwischen allen Welten dünn. Und die Kräfte, Mächte fließen und strömen frei und ungehemmt. Die Macht, euch jenen Wandel zu bringen. Die Macht, euren Ängsten Gestalt zu verleihen. Überlegt es euch noch einmal, ob Ihr das wirklich tun wollt.«
»Wir sind Aschkantianerinnen«, rief Seylana und warf ihr bronzefarbenes Haar zurück. »Wir fürchten nichts und niemanden.« Sie war immer die mutigere der beiden gewesen – die Erste, die sich ein Pferd gezähmt, die den wilden Steppeneber gejagt hatte.
Ihre Schwester sagte kein Wort darauf, starrte nur stumm in den hellen Feuerschein.
Da nahm der Enaree eine Hand voll Orienna- und eine Hand voll Totenkopfwurz, warf beides ins Feuer … Und als die Flammen aufstoben, die Luft sich mit beißendem Rauch füllte, begann der Junge, seine Trommeln zu schlagen. Seylana horchte kurz darauf, legte dann den Bogen beiseite und knöpfte ihre Weste auf. Die Rhythmen der Kriegs- und der Festtänze waren ihr ja alle geläufig. Aber dieser war ganz anders, war wie das Echo ihres eigenen Herzschlags.
Und der Enaree zog, trotz der Hitze des Feuers in der lauen Sommernacht, den Umhang fester um seine mageren Schultern und suchte mit den altersweitsichtigen Augen den Himmel ab.
Dann trat Seylana nackt ihrer Schwester am Feuer gegenüber. Und die Trommeln dröhnten lauter, lauter, bis ihr Klang ihr den Kopf füllte, ihr die Knochen vibrieren ließ. Nun hob sie die Hände, die Innenseiten nach außen gekehrt, und drückte, stemmte sie gegen diese unsichtbare Wand, die sie von ihrer Schwester trennte.
Seylana schloss beide Augen und summte etwas vor sich hin, in ihrer beider geheimsten Sprache. Und Meriadess vereinte ihre Stimme mit der ihrer Schwester, zu einem einzigen reinen Klang. Musik wie Geistgestalt sprengte die Grenzen ihres Fleisches. Die Sicht verschwamm ihnen, bis sie die Welt mit den Augen der jeweils anderen sahen.
Beider Herzrhythmen passten sich immer mehr dem der Trommeln an. Und sie bewegten sich im Gleichklang, als eine Einheit, und tanzten nach einem einzigen Rhythmus.
Finsternis schob sich über den Rand des Mondes.
Eine feuerbronzierte Frau fasste nun nach der anderen – eine gespiegelte Geste im honigdichten Licht … Zwillingskörper, die wie gelber Marmor gleißten, und ineinander verschränkte Blicke, ausgestreckte Arme, gespreizte Finger, die einander berührten.
Berührten.
Das Netz, das sich zwischen ihren Händen spannte, glühte wie ein Schleier aus flüssigem Gold. Ihre Leiber bogen sich und schwankten so geschmeidig wie junge Weiden im selben Wind. Durch das glühende Netz verbunden, strahlte beider Fleisch dieselbe weiße Hitze aus. Die Verwandlung erfasste ihre Arme und Beine, dass sie heller noch als die Sonne lohten und das lodernde Feuer daneben verblasste. Ihre Seelen, Körper, sie brannten vereint, als eine, einer … Ihrer beider Gedanken verschmolzen in diesem Inferno, lösten sich auf.
Da verstummte jäh der Trommelschlag.
Seylana riss die Augen auf. Atem versengte ihr die Lunge. In den zuckenden Schatten sah sie einen Schemen wehen. Aus dem Augenwinkel erkannte sie im weichen, bernsteingelben Feuerschein einen silbernen Blitz.
Das Netz hatte sich während dieser wenigen Augenblicke zur klebrigen Membrane verdichtet und verdickt. Dunkle Schatten quollen über den Steinkreis hinaus und gewannen an Substanz und Form. Und die Nachtluft, die knisterte elektrisch – wie von Blitzen schwanger.
Schwarze Schemen strömten zwischen den ragenden Steinsäulen herein und nahmen feste Gestalt an. Eines dieser Wesen, mit dem schimmernden Skorpionzeichen, dem Symbol des Qr auf der Stirn, überragte die anderen um Haupteslänge. Und jetzt hob sich ein Krummschwert zum Schlag.
Seylana nahm es aus dem Augenwinkel wahr. Doch Verzweiflung erfasste sie – denn sie sah es nicht aus der doppelten Sicht beschleunigten Wandels, sondern aus bloß einem Blickwinkel.
Zu spät …
Blutüberströmten Gesichts erhob sich jäh der Enaree aus dem Dunkel und stürzte sich mit dumpfem Schrei auf den düsteren Qr. Und die Gestalt wirbelte herum, führte das Krummschwert zum horizontalen Hieb …
Lauthals schrie Seylana auf, als jene funkelnde Klinge ihre Zwillingsschwester traf. Der Schlag und Schock ließen ihr das Mark gefrieren. Und das Netz loderte und verglühte, zerfiel zu rieselnder Asche. Also setzte sie all ihre Kraft in einen letzten Versuch, die Einheit zu erreichen, und langte durch die explodierenden Dunkelheiten nach ihrer Schwester, ihrer Seele, ihrem Ich …
Grelles Licht versengte ihr wie Sonnenbrand die Augen. Eine Brise strich ihr über die bloße Haut. Ihre Finger schlossen sich um seltsam schlaffes, klebriges Riesengras. Der Rücken brannte und schmerzte ihr, als ob sie den ganzen Tag in der gnadenlosen Sonne gelegen hätte … Aber am allerschlimmsten war doch das unbeschreibliche Gefühl des Verlusts, völliger Leere.
Ich habe meine halbe Seele verloren.
Sie hob den Kopf, doch nun wurde ihr schwindlig, schwamm ihr alles vor Augen. Auch der Versuch, den Blick auf die alten, heiligen Steine zu konzentrieren, half ihr wenig. Blinzelnd machte sie anderes aus, die Überreste des Feuers, verdrehte Bündel, Leichen vielleicht … und Fetzen bunten Stoffs. Da ließ sie den Kopf zurücksinken und schlief wieder ein.
Flüstern, Gemurmel weckte sie zum zweiten Mal. Sie erkannte die Stimmen nicht und wusste doch genau, dass sie sie kannte. Sie hörte Sorge aus diesem Gemurmel heraus und fühlte, wie Hände sie anhoben, eine Decke um sie schlugen, die kratzte, dass ihr die Haut juckte. Sie fühlte sich getragen und sanft wie ein Säugling gewiegt und sah, wie in einem jähen Traum, einen Zelthimmel über sich … dicker, grauer Filz, mit dem stilisierten Bild der Löwin bestickt, das ihr vertraut war wie ihr eigener Herzschlag.
Tagelang, erzählten sie ihr später dann, lag sie im Fieber. Sie aß, was man ihr in den Mund steckte, sie erhob sich auf Geheiß der Heilerin und ging umher.
Als der Sommer zu Ende ging, verlegte man das Lager. Seylana transportierte man zuerst auf einer Schleppe, die ein schon gesetztes Kamel zog. Später hielt sie zu Fuß mit. Die Kraft dafür nahm sie aus der Weite des Himmels über sich und dem süßen Duft des Präriegrases, der ihr die Lunge füllte.
Aber die Heilerin musste ihr alles sagen und die einfachsten Dinge erklären: den eigenen Namen, wie man sich anzieht und sich wäscht, wie man isst und trinkt und wie man einen Bogen spannt und ein Pferd reitet.
Warum fühle ich mich so einsam und allein?, fragte sie immer wieder, wenn sie über ihre Schale Kamelquark gebeugt saß.
Du hast deine Schwester verloren, sagte dann diese Frau, die ihres Vaters Mutter war. Und wir alle haben unseren Enaree verloren. Da ist niemand mehr, der dich führen könnte, mein armes verlorenes Kälbchen.
Wie hieß sie? Sag es mir noch einmal.
Meri, wiederholte sie dann, wenn sie in den grauen Stunden der Nacht wach lag, die Arme um Brust und Bauch gelegt, als ob sie die Leere umschließen könnte. Meriadess. Und bei jeder Nennung dieses Namens schoss ein Schmerz wie von einer unheilbaren Wunde in ihr auf.
Der Sommer hatte das hohe Gras zu Zunder gedörrt. Da fegten Sturmwolken über den unendlichen Himmel, die Blitze, Donner und Wolkenbrüche brachten. Die Nächte wurden kühl und kalt. So trieben die Aschkantianer ihre Herden sommerfetter Kamele gen Süden, zu den Winterweiden. Dort versammelten sich die Stämme und boten Händler aus Gelon und dem fernen Meklavan ihre aus Salmos Minen und den Gewürzländern kommenden Waren an – Salz und Silber, Bernstein und Myrrhen und getrocknete Früchte aller Art. Hier maßen Männer und Frauen ihre Kräfte und Kunst im Ringkampf und Lauf, Bogenschießen und Fechten, und dort tanzten sie und tranken sie ihren K’th bis spät in die lange Nacht, zupften die Harfen und fanden beieinander in dunklen Zelten wohlige Wärme und Liebe und Lust.
Hier hörte Seylana auch wieder von Qr raunen und flüstern.
In dem finsteren Wald an der Nordgrenze von Gelon, murmelte der über seine Messerklingen und Pfeilspitzen und Nähnadeln gebeugte Händler aus Meklavan. Ein oder zwei Mal im letzten Sommer und dann wieder zur Herbstwende.
Nein, brummte sein Partner, die Geloni haben nie zugegeben, dass derlei existierte … Tempel aus Stein haben sie erbaut, nicht wahr, und die Sterne mit Kompass und Karte studiert.
Aber es waren gute Kunden, was Schwertstahl angeht, betonte der Erste. Doch dann blieb ein junger Kerl, der Sohn eines Häuptlings, neben ihnen stehen, um sich ein Paar Zügelbuckel anzusehen, und da redete man nicht mehr von Qr.
Gelon Seylana wendete und drehte das Wort, den Namen des fernen Reiches, in ihrem Kopfe hin und her. Geloni waren in das Land der Aschkantianer eingefallen, als ihre Mutter noch ein Kind war, und hatten nur unter größten Verlusten auf beiden Seiten wieder zurückgedrängt werden können. Solche Schmach, solche Pein vergaß man nicht so bald. Man würde sie vielleicht auf der Stelle töten oder für eine Spionin halten, wie die legendäre Aimellina.
Ich bin bereits tot, dachte sie und machte sich daran, ihre paar Habseligkeiten zu packen – etwas anzuziehen, zu essen, ein kleines, fein gearbeitetes Kohlebecken aus Bronze, das einst ihrer Mutter gehört hatte … und packte alles in den Reisesack, den sie sorgsam hinter den Sattel ihres Pferdes schnallte. Doch den Bogen, den ließ sie zurück, als sie nun ins Land ihrer Feinde ritt.
Ihren Falben und eines ihrer drei Messer tauschte sie gegen ein paar gelonische Kleidungsstücke, einen gut zugerittenen Onager und eine Hand voll Münzen ein. Der Gastwirt nahm ihr Geld noch mit misstrauischem Blick. Aber als die Grenze erst weit hinter ihr lag, ging sie überall als Pythikerin durch. Die Aschkantianer waren schließlich nicht dafür bekannt, in friedlicher Absicht nach Gelon zu kommen.
Als ihre Börse mager geworden war, verdingte sie sich bei einer Karawane, die gen Osten, ins Herz von Gelon, unterwegs war, als Viehtreiberin. Reisende Händler schnappten ja allerlei nützliche Informationen auf – alles, was mit der Sicherheit auf Überlandstraßen zu tun hatte. Mancherlei Gerüchte kamen Seylana da zu Ohren: Dass der König von Ar Krieger für einen Zug gegen Meklavan aushebe, dass die Grenze von Aschkant offen sei, dass sie geschlossen sei, dass die Brunnen von Borrivent vergiftet seien, dass jenes Skorpion-Emblem an einem fernen, abgelegenen Ort gesehen worden sei. Spät in der Nacht, wenn sie die Halbesel gefüttert und gefesselt hatte, brütete sie noch lange über den Karten des Karawanenführers.
Hier und dann dort … ein Zusammenhang, ein System?
Die Leere, die ständige Gefährtin, pochte in ihr.
Sie musste mehr wissen, um sich durch das Reich zu bewegen, ohne Verdacht zu erregen. Mit den Händlern kam sie da nicht weiter. Denn deren Devise war, sich so weit wie möglich von allem fern zu halten, was Ärger bedeuten könnte … Sie jedoch wünschte sich den herbei.
Am folgenden Morgen ritt sie zur nächsten großen Stadt. Dort musste sie sich an zwei örtlichen Schlägern vorbei ihren Weg bahnen, um ins Heer des Königs von Ar eintreten zu können.
Der Zug gegen Meklavan endete bald wieder in der Sackgasse, und Seylana stieg so langsam auf. Bald waren ihr das Schwert und ihr Halbesel so vertraut wie einst ihr Bogen und ihr Pferd. Sie trank, aber nicht zu viel, und sie träumte, aber nicht genug.
Manchmal wachte sie schwitzend und zitternd, das Heft ihres Schwerts umklammernd, in ihrem Feldbett auf. Dann spähte sie hastig von einer dunklen Ecke zur anderen, als ob sie etwas suchte, was sie vergessen hatte. Nicht einmal der rote Wein oder die Liebe eines Mannes halfen ihr über jene innere Leere weg.
Und immer wieder hörte sie von Qr raunen und flüstern, dann zitterte jedes Mal etwas in ihr, wie eine Bogensehne.
Von ihrem Platz an der großen Tür, mit dem Rücken zur Wand, überblickte sie die Gaststube sowie ein Stück der staubigen Straße, die an der Schänke vorbeiführte. Und so spät am Tag drängten sich da Soldaten auf Ausgang, Viehtreiber, Händler und Handwerker, wie Schmiede und Sattler etwa. Seylana nahm einen Schluck aus ihrem Glas, schwenkte ihn auf ihrer Zunge. Der gelonische Wein war ihr noch immer etwas zu süß … nach dem doch scharfen, sauren K’th. Sie lauschte wieder auf das dumpfe Gemurmel, das rings um sie wogte, aus dem sie ab und an ein Wort, einen Satz aufschnappte …
Da nahm ihr eine schmale, hohe Gestalt das bereits schwache Nachmittagslicht. Ihre Muskeln spannten sich an. Das Messer fiel ihr wie von allein in die Hand. Sie hielt es verborgen und bereit.
»Wir kommen zu dir in Frieden«, sprach der Mann mit sanfter Stimme. »Du brauchst keine Angst zu haben.«
Seylan atmete langsam wieder aus. Sie hatte von ferne schon mal Gelonipriester gesehen, aber noch mit keinem gesprochen. Es überraschte sie jetzt, wie sehr dieser dem Enaree ihrer Jugend glich.
»Womit kann ich dienen?«, fragte sie höflich.
Auf ihre Einladung nahm er sich von einem nahen Tisch einen Hocker, setzte sich zu ihr und sagte: »Die Frage ist, womit wir dir dienen können.« Er sprach von sich in der Mehrzahl, wie alle Gelonipriester. Sie glaubten doch, dass alle Seelen Teil einer grenzenlosen Einen seien, und hatten darum nicht einmal Eigennamen. »Du suchst etwas über die Kräfte des Qr zu erfahren.«
Sie nickte, mit zugeschnürter, trockener Kehle.
»Darüber haben wir Jahrhunderte des Wissens«, erwiderte er. »Die wahre Gefahr liegt in der Unwissenheit. Du gehst umher und stellst Fragen.«
»Wirst du mir Antwort geben?«
»Der Weg des Wissens steht allen offen, die wirklich suchen, und damit die größte Freiheit als Erlösung von der Tyrannei der Begierden und Wünsche. Wir kämpfen für das Gute, so wir es müssen, geben aber dem Hass, mag er noch so gerecht sein, kein Heim in unserem Herzen.«
Doch sie wollte nicht den Gedanken an all das aufgeben, was sie verloren hatte, und daran, wer sie war und was sie ohne die unbeschreibliche Bosheit des Qr hätte sein können.
»Nein, ein Großteil dessen, was wir einst über Qr zu wissen meinten«, sprach er, »waren Legenden, waren Geschichten, die man erzählte, um ungehorsame Kinder zu erschrecken.«
»Mehr als zu erschrecken. Sie haben mir eine Hälfte meiner Seele gestohlen.«
Der Priester sah ihr mit ruhigem Blick in die Augen, als ob er ihren Mut wägen wollte. »Letzthin fanden sich entstellte Leichen, vergiftete Brunnen, umherirrende Tiere.«
In Finsternissen flüchtig Wahrgenommenes. Sie schauderte, sosehr sie sich dagegen wehrte.
Der Priester presste die runzligen Lippen zusammen. »Wenn wir uns innerlich frei machen, spüren wir einen Riss, der das All durchzieht. «
Das hatte Seylana schon öfter gehört, von den Kräuterfrauen auf den Märkten Merivars. Und manche hatten gesagt, dieser Riss erweitere sich mit jedem Mond, der ins Land gehe.
»Wir haben über die Epochen hinweg unsere uralten Schriften bewahrt«, fuhr der Priester fort. »Und mit ihnen das Wissen um die Welten jenseits der unsrigen, um die Natur des Todes und der Seele. Dürstet dich denn danach, nach derlei? Kommst du zu uns, um zu trinken?«
Sie schüttelte den Kopf, auf aschkantianische Art. »Ich habe mich für eine Zeit im Heere des Ar-Königs verdingt, und ich kann nicht lesen.«
Er lächelte bedächtig. »Wir verlangen nicht, dass einer alte Eide bricht oder neue schwört. Komm zu uns, wenn du kannst, und wir werden dich lehren.«
Ich träume, dachte sie, noch als die eisigen Hände ihr Herz fassten. Nun könnten die Dunkel jeden Moment zusammenströmen und arkane Substanz und Gestalt annehmen. Und dann käme das todverheißende Glitzern rasiermesserscharfen Silbers …
Im nächsten Moment fand sie sich, auf ihrem kampferprobten Halbesel sitzend, mitten auf einer Wegkreuzung wieder. Sie blinzelte, um wieder klar zu sehen. Ihr Reisegefährte, ein Priester, den sie kaum kannte, kniete im Gebet versunken auf der staubigen Landstraße. Längs ihres grauen Bandes dehnten sich erbärmliche Felder – zu karg der Boden und zu sehr mit verwitterten Steinen übersät, um eine Bestellung zu lohnen. Hier und da zupften kurzbeinige Schafe an den harten gelben Grashalmen.
In Merivar stationiert, hatte Seylana schon einen Liebsten und den Ruf, in seltsame Ereignisse Einblick zu nehmen. Bei den Templern hatte sie lesen gelernt, die Anfangsgründe des Schreibens gar. So hatte sie sich freiwillig gemeldet, als ein Priester Geleitschutz zur Waldburg angefordert hatte – ein Auftrag, der trotz des Angebots von Extralöhnung selbst bei den hartgesottensten Veteranen kein Interesse gefunden hatte … Der Hauptmann war auch nicht gewillt, irgendeinen von seinen Soldaten gegen dessen Willen an so einen, an der Grenze zwischen Mythos und Wahn gelegenen Ort zu schicken – vor allem, wo doch nun die Gerüchte über einen Albtraum von einem insektenartigen Monster, das da in Finsternissen oder Traumschwaden wahrgenommen worden sei, bedrohlich ins Kraut schossen.
Da wartete sie darauf, dass der Priester wieder aufsaß. Ihr fiel auf, dass die Falten in seinem altersmüden Gesicht noch tiefer waren als zuvor.
»Was immer es ist«, schwor sie, die Hand am Heft, »es muss an mir vorbei, um dir ein Haar krümmen zu können!« Aber von dem Ziehen in ihr, das mit jeder Stunde stärker geworden war, sagte sie kein Wort.
Der Priester starrte sie zweifelnd an. »Wir in der Waldburg werden uns beschützen.«
Sie ritten auf der selten benutzten Piste zügig fort – ihre Halbesel legten in ihrem natürlichen Passgang die Meilen nur so zurück. Spätnachmittags sahen sie in der Ferne eine Reihe uralter Bäume ragen, und nicht lange, da kamen sie an den ersten Solitären vorüber, die mit ihren geraden Stämmen den knorrigen, ineinander verschlungenen Riesen des Waldes weiter voraus nicht im Mindesten glichen. Die Sonne tauchte schon unter den Horizont, sodass unter dem Laubdach nun ein gespenstisch grünes Dämmerlicht herrschte und alle Schatten die Farbe halb eingetrockneter Tinte hatten.
Seylana verschwamm in diesem Zwielicht alles vor Augen. Sie meinte, zwischen den Stämmen missgestaltete Wesen huschen zu, sehen. Und die Innenflächen ihrer Hände, die in ledernen Fäustlingen staken, juckten teuflisch … Für eine Kriegerin das untrügliche Vorzeichen eines Kampfes.
Manchmal, in den kalten Morgenstunden, wenn sie, allein auf ihrem Feldbett oder neben ihrem schnarchenden Thomas, wach lag, fragte sie sich, ob sie jene Nacht auf dem Hügel nicht bloß geträumt hatte. Manchmal konnte sie sich nicht mehr an den Namen ihrer Schwester erinnern oder an ihre Stimme, ihr Harfenspiel.
Aber manchmal war ihr, als ob die Trennung erst tags zuvor erfolgt wäre, war die Wunde noch ganz heiß, roh und blutig. Fleischwunden heilten; das wusste sie als Kriegerin ja wohl. Aber es gab andere Verletzungen, für die das nicht galt …
Jetzt sprang ihr Halbesel rasch zur Seite, warf den Kopf und bebte am ganzen Leibe vor Furcht. Also wechselte Seylana den Zügel in die Linke, zog ihr Schwert, dass es singend aus der Scheide fuhr!
»Bleib hinter mir!«, flüsterte sie dem armen Priester zu und trieb ihr Reittier voran. Sie roch es wohl: Zauberei lag in der Luft, und der vertraute scharfe Geruch von vermoderndem Laub verdeckte diesen anderen nur halb …
Sie kamen um eine Biegung, an einer Gruppe von Eschenbäumen vorbei, die alle aus demselben Wurzelstock wuchsen. Schwarz schimmerte deren Rinde und glänzte im Licht des Mondes, das durchs Laubdach fiel.
Endlich sah sie vor sich die Waldburg ragen: ein Steinklotz mit Lichtern, die vor dem Nachthimmel ganz unnatürlich blau glitzerten. Das tänzelnde Tier straff zügelnd, näherte sie sich der Feste schräg, umkreiste sie in Nacht und waberndem Dunst.
Nach einer Runde schon bog sie schnell ein, um sich das Tor näher anzusehen. Es war fest verschlossen – aber die vergitterten Fenster beiderseits davon ohne Läden und grell erleuchtet. Da hielt sie ihren Onager an und spähte hinein. Dort in der Halle kämpfte das blaugrüne, phosphoreszierende Licht, das sie von fern erblickt hatte, gegen den normalen Schein eines gewöhnlichen Holzfeuers an, das in der Feuerstelle in deren Mitte lohte. Und darum herum standen fünf Priester in weißer Robe. Etwas an ihnen, ihre starre Haltung, erinnerte Seylana an den Steinkreis auf dem Hügel.
Eine Belagerung, fuhr es ihr durch den Sinn. Doch hier war kein Eindringling, kein Feind und keine Bedrohung, bloß die unnatürliche Ruhe, die hier herrschte.
Als sie ihren Onager herumriss, um das Burgtor besser in den Blick zu bekommen, nahm sie noch aus den Augenwinkeln eine Bewegung in der Kreismitte wahr – das Aufblitzen der weißen Robe eines der Novizen, der jetzt zur Tür stürzte …
Schon schwang die schwere Holztür auf, weit genug, um einen berittenen Krieger einzulassen. Und herausgestürzt kam, vor Panik wie blind und mit flehend erhobenen Augen und Händen, der Tempelschüler, fast ein Kind, und er flog an ihr vorbei und dem Priester hinter ihr geradewegs in die Arme.
Da grub Seylana ihrem Onager die Hacken in die Flanken, dass er mit einem Satz durchs Tor und mitten in den Saal sprang. Doch beim Klirren der Hufeisen hob der am nächsten stehende Priester den Kopf … sein Gesicht war von Verzweiflung gezeichnet.
Ihr blieb der Kriegsruf im Halse stecken. Denn die Schatten zogen ihren Blick auf sich, fingen sie wie ein Insekt im Spinnennetz. Sie umschlangen, nein, strangulierten die Halle und nahmen langsam, aber unaufhaltsam, feste Gestalt an.
Wie früher schon einmal, viele Jahre zuvor. So wie in ihren Albträumen.
Der natürliche, orangefarbene Brand der Feuerstelle erlosch mit einer Wolke lungenversengenden Rauchs. Metall glühte im Dunkel. Der Priester, der Seylana am nächsten stand, schrie einmal fürchterlich auf. Seylana riss ihren Onager herum, um »es« anzugehen, und führte ihren Hieb schräg nach oben: Ihr Schwert teilte nur wirbelnden, wabernden Nebel, der sich im Nu aber wieder schloss und fand.
Und ihr Onager hustete, sanft und gequält, schwankte und fiel, krachte zu Boden. Doch sie war noch abgesprungen und landete auf den Füßen.
Rasch zog sie sich in Bereitschaftshaltung zurück. Das Blut summte ihr in den Ohren. Aber ihr war, als ob sie ihr ganzes Leben nur auf diesen Moment hin trainiert hätte, für das, was jenseits dieser Dunkelheit lag.
Lautlos vertiefte sich die Schwärze. Und plötzlich erschien im Herz der Finsternis ein Krummschwert, von einer Hand mit sieben Krallen gehalten.
Den ersten Todeshieb dieser Klinge parierte Seylana behänd, wich nun tänzelnd der im Handumdrehen kommenden Riposte aus und war nur noch Leib und Reaktion, als ein zweites Schwert und gar ein drittes erschien. Dann nahm sie, im flackernden Schein der Glut, den Umriss eines Kopfs, einer Schulter auch wahr. Und sodann das Emblem auf der Stirn: das Tier mit den mächtigen Panzerscheren, dem gekrümmten Schwanz mit langem Stachel.
Kaltes Feuer rieselte ihr nun durch die Adern. Sie wirbelte herum und hieb zu, fegte die eine Klinge beiseite und stieß an einer anderen vorbei ins Schwarze … Todesschreie ließen die Luft erzittern. Alle Kraft einsetzend, kämpfte sie sich zu dem größten der Wesen mit Skorpion-Emblem durch. Dieses ließ sogleich von einem gefällten Priester, dem letzten, ab und wandte sich gegen sie. Still wurde es da in der Halle, nicht einmal das Schleifen einer Ledersohle auf den Fliesen war zu hören.
Nur der gleichmäßige Herzschlag dieser Frau, die allein den Schattenwesen gegenüberstand.
Ohne lange zu überlegen, hatte sie einen beidhändigen Griff gewählt, und stand nun, die Klinge in der Haltung der Macht erhoben, mit etwas gebeugten Knien und ganz gesammelt, die eine Schulter zum Gegner …
Meri, dachte sie.
Das Wesen kam auf sie zu.
Sie wartete ab, ganz Balance. Das Skorpionzeichen schien zu glühen und sich in ihr Bewusstsein einzubrennen. Ein anderes Sein, in tiefen Tiefen begraben, war ihm Antwort, Ebenbild. Das war doch jenes Wesen, das sie in Albträumen heimgesucht hatte. Und es kam näher, wankend jetzt, da es immer klarere, festere Gestalt annahm.
Näher … näher …
Es beugte den Arm und brachte seine albtraumhafte Klinge in Position. Aber Seylana spürte die Öffnung in seiner Deckung, noch ehe die sich zeigte, spürte, dass es zum Angriff ging – und attackierte selbst.
Ein Kampfruf, ihr kaum als ihrer erkennbar, zerriss die Luft. Hehre, schiere Kraft, durch die Spitze ihres Stahls gezogen, durchströmte sie. Und die Spitze ihres Schwerts glitt durch Fleisch, als ob es Gaze wäre.
Sie wand sich – nahm wieder beide Hände, um die Klinge nach unten und seitlich, zum tödlichen Hieb, zu führen. Tintiger Rauch, der alles verkohlte, was er berührte, quoll aus der Wunde. Seylana flossen die Augen von Tränen über. Die Beine zitterten ihr. Der Atem stockte ihr, ihre Lungen rasselten. Es schwankte ihr vor Augen, und sie hing sich an den Griff ihres Schwertes, zog mit aller Kraft daran …
Plötzlich kam ihre Klinge frei und glitt durch Luft, durchs Leere. Da taumelte Seylana, verlor ihre Balance – fing sich aber gleich wieder, blinzelte, bis sie wieder klar sah.
Fetzen farblosen Nebels verflogen und vergingen. Und da sah sie: Die Waldburg, die war verschwunden … und mit ihr die Feuerstelle, die Leichen der Priester und die Kadaver ihrer armen Onager. Selbst der Wald ringsum war verschwunden, als ob er nie existiert hätte … Und sie stand in einer flachen Senke, die ganz mit glattkörnigen Steinen ausgekleidet war, mit Quadern so dicht an dicht, dass kein Grashalm dazwischen gepasst hätte. Über all dem lastete eine bedrückende Stille. Und mit dem Übrigen war auch verschwunden, was sie angehabt hatte. Sie trug jetzt ein Gewand aus hauchdünnem Stoff, der hauteng anlag und all ihre Formen nachbildete, sie aber in ihrer Bewegung nicht im Mindesten behinderte. Aus der Mitte ihres Körpers wuchs ein von aberhundert Flüssigglanzpunkten strahlender, fein geflochtener Lichtstrang, der in weiteste Fernen reichte.
Nur das Schwert in ihrer Hand war dasselbe geblieben – ihre gute alte Waffe, kampferprobt, schartig, tauglich. Tödlich.
Wirklich … Vielleicht das einzig Reale an diesem seltsamen Ort.
Nun drehte sie sich langsam im Kreis, um einen Blick in die Runde zu werfen. Grauer Stein in alle Himmelsrichtungen, so weit das Auge reichte, und gar als niedriger Horizont. Aber dann waren da noch zwei gedrehte Lichtstränge … Einer, der sich von ihr voraus erstreckte, und einer, von ihrem Rücken aus, der in die Richtung lief, aus der sie gekommen war.
Mit der freien Hand, und recht spitzem Finger, fuhr sie den Lichtstrang entlang, gegen den Strich. Spürte aber statt Hitze oder dem Funkenregen, wie er entsteht, wenn man Seide gegen Bernstein reibt, nur eine angenehme Kühle. Also legte sie die Finger fest darum, maß seine Dicke und prüfte seine Elastizität. Jeder Schritt nach vorn ging so leicht wie das Gleiten über Eis. Bei jedem Schritt zur Seite aber fuhr ihr ein Schmerz durch Mark und Bein – so hart verkrampften sich ihre Muskeln, so sehr stockte ihr der Atem.
Sie fasste ihr Schwert fester, tat einen Schritt voran, dann gleich noch einen. Der Steingrund unter ihren nackten Füßen war weder kalt noch warm und weder rau noch glatt. Und der Horizont rückte nicht näher, aber auch nicht weiter weg. So glitt sie, in völliger Stille, langsam voran.
Bald spürte sie, dass die Luft immer dichter wurde, ganz als ob sich dort die Schatten versammelten. Aber diese Schatten waren aus Licht statt aus Finsternis. Erst hielten sie sich am Rand ihres Gesichtsfeldes und verschwanden im Nu, sobald sie den Kopf drehte, um ihnen die Stirn zu bieten. Und als sie nun nach ihnen rufen wollte, brachte sie nur ein dünnes Flüstern heraus. So schritt sie weiter und verfolgte stumm, wie die transparenten Schemen opaker wurden, dabei eine Art von Gestalt und Form annahmen, ganz wie jene Qr-Schatten.
Doch plötzlich erreichte sie den Rand der steinernen Senke. Etwas voraus, ungefähr in hundert Schritt Entfernung, sah sie ein halbes Dutzend Gestalten stehen: nicht diese gespenstischen Schatten, sondern Wesen von Fleisch und Blut wie sie. Doch »Menschen« konnte man sie nicht nennen, bei diesen schmalen Schultern und den Händen mit zu vielen Fingern. Und um den runden Kopf trugen sie eine Art kohlschwarze Gaze, die ihre Züge verdunkelte, und an der Stirn ein grellweißes Band, auf dem das Skorpionemblem von Qr prangte … Aber nein, das war nicht eigentlich ein Skorpion, eher eine Art Symbol, so wie die Meklavaner sie anstelle gewöhnlicher Schriftzeichen benutzten. Nur menschliche Einbildungskraft hatte ihnen die Form eines todbringenden Insekts gegeben.
Doch der Lichtstrang führte genau in die Mitte der Schar.
Da hob Seylana ihr Schwert. Und fühlte prompt, wie die Woge der Kraft kam, Kampffieber ihren Puls beschleunigte und ihr Herz ihr vor Lust und Tatendurst im Leibe sprang.
Die Gestalten standen wartend, ohne ein Anzeichen von Angst oder Furcht.
Doch als sie attackieren wollte, wich der Haufen und teilte sich längs des Lichtstrangs. Ihr aber riss es so das Schwert herab, dass sie es nur dank langer, harter Übung in der Hand behielt. Da stürmte sie voran … halb in Angst, die Vision schwände, wenn sie näher käme.
Ein Spiegelbild war es, und doch wieder nicht, diese von den Jahren unberührte, in dasselbe hauchdünne, hautenge Gewand gehüllte Gestalt.
Meriadess.
Die Zwillingsschwester stand wie blind und ohne ein Zeichen des Wiedererkennens oder der Verzweiflung, Freude oder Pein im Gesicht und wartete nur.
Seylana hatte gehofft, ihre Schwester zu rächen, nicht, sie zu befreien … Doch jetzt, ohne auf die lauernden Qr zu achten, stürzte sie vor und schrie: »Meri! Meri, komm mit mir!«
Sie streckte die freie Hand aus – und fasste ins Leere. Ihre Finger gingen durch die scheinbar feste Kreatur hindurch wie durch Luft. War das bloß Illusion, eine aus Rauch und Licht geborene Vision?
Nein, sie fühlte doch das Band zwischen ihnen, das sich von der Leere in ihrem Herzen zum Spiegelbild ihrer Meri zog.
So hob sie ihr Schwert erneut zum Ausfall, zum Hieb, drehte sich zu dem am nächsten stehenden Qr um und rief: »Lass sie frei oder stirb!«
»Wir können das doch nicht«, erwiderte eine hohle Stimme in ihr. „… können nicht, können nicht, werden nicht …«
»Warum? Was habt ihr ihr angetan?«
Da zuckte die Gestalt mit den Schultern und schüttelte sich vor schierer Angst.
»Feiglinge, Lügner! Ihr schuldet mir mein eigenes Blut! Ihr habt meine Schwester erschlagen, mitsamt dem Jungen und dem Enaree meines Stammes! Ich sage noch einmal: Lasst sie frei, auf der Stelle!«
»Sie wird durch Bande gehalten, die wir nicht durchtrennen können«, war da wieder die Stimme mit dem unheimlichen Echo zu vernehmen. „… durchtrennen, durchtrennen, niemals …«
Seylana tat einen Gleitschritt auf den nächstbesten Qr zu. »Dann wollen wir mal sehen, was ich durchtrennen kann!«
„… geh, geh, weh, weh …«
Dann trat eines jener Wesen vor. Eine Klinge, nicht mehr als eine verfestigte Wolke, erschien in seinen Händen … Seylana teilte es schräg von oben, von der Vereinigung von Hals und Schultern an. Wie glatt doch schnitt das rasiermesserscharfe Schwert!
Aber schon war das scheinbar feste Fleisch wieder verheilt.
Seylana parierte eine Riposte. Und schlug tief, der Kreatur geradewegs durch den Bauch. Wieder keine Wunde.
Schwer atmend wich sie etwas zurück. Wenn nicht zum Töten, warum dann war sie hier?
Sie blickte auf den Lichtstrang hin, der sie einerseits mit ihrer Schwester verband und andererseits mit … ja, womit? Mit ihrem Tod in der blutbespritzten Burg, hatte sie bisher gedacht. Aber nun schwante ihr, dass er sie ja mit dem Leben verband!
Und das Leben dadurch mit ihrer Zwillingsschwester.
Und durch Meri hatte das Böse jetzt ein Tor in die Welt.
Qr war in jener Nacht auf dem Hügel durch die zweifach, von Sonnenwende und Sonnenfinsternis, verdünnten Wände zwischen den Welten gebrochen. Nach der natürlichen Ordnung, wie die Priester sie beschrieben, hätte das nur eine Stunde währen dürfen … Doch jetzt hatte es ein Einfallstor, das nicht zu schließen wäre, solange sie und Meriadess noch miteinander verbunden wären.
Es wäre recht einfach, den Strang, der sie mit der Welt der Lebenden verband, zu durchtrennen, um dann bei Meriadess zu bleiben. Vielleicht verbrächte sie die ganze liebe Ewigkeit damit, gegen Qr zu kämpfen. Aber solange sie beide zusammen waren …
Meri?
Seylana blickte in die Augen, die so wie die ihrigen waren. Doch da war keine Antwort darin, nicht einmal ein Flackern. Trauer überkam sie, wie eine gewaltige Woge. Die alte Wunde pochte wieder, schwieg aber dann. Sie könnte ihre Schwester nie mehr in die Arme nehmen und nie mehr ihre Stimme hören, den Atem ihrer Lungen teilen. Was auch geschähe, Meriadess war auf immer für sie verloren.
Um aber die Welt der Lebenden zu retten, Gelon und Aschkant und all die weiten Lande dahinter, musste sie Meriadess nun loslassen. Die Leere loslassen, die sie all diese Jahre wie einen kostbaren Schatz gehütet hatte.
So sah sie auf das Schwert in ihrer Hand hinunter, auf den Lichtstrang auch. Und schwang die Klinge und schlug zu, in einer einzigen raschen Bewegung, und durchtrennte das Band zwischen sich und der Schwester.
Das Bild von Meriadess verblasste zum Nichts.
Und Seylana … Ihr Schwert schrie auf, so wie ein Mensch im Todeskampf. Licht explodierte rings um sie. Die Luft zerriss mit lautem Knirschen. Stein barst, ging in Flammen auf. Der baumelnde Strang schnurrte ein. Und sie fühlte, wie sie mit atemberaubendem Tempo rückwärts durch den Raum zischte. Ihr öffnete der Mund sich zu einem lautlosen Schrei. Und Qr, im Mahlstrom erfasst, verschwand in der Ferne.
Das Heulen des Fahrtwinds ging ihr durch Mark und Bein. Sie wollte sich die Ohren zuhalten, jedoch die Hände gehorchten ihr nicht. Sie bäumte sich, zappelte wild, flog jedoch immer schneller. Ein Frösteln, eine Eisesschwäche kroch ihr durch die Adern, der Kopf hing ihr schlaff herunter, und das Herz stockte ihr.
Jetzt landete sie wie ein Sack auf hartem, kaltem Grund und spürte, wie ihr scharfkantige Steine ins Fleisch schnitten. Sie blinzelte, schüttelte den Kopf – sie war mitten in der Burg. Durch deren Ostfenster fiel Morgenlicht. Ihr Schwert, die Klinge schwarz verbrannt und völlig verbogen, lag neben ihr. Der Onager sprang schnaubend auf die Hufe. Stöhnen von der anderen Seite des Saals: Die Priester umarmten einander und seufzten, stammelten, dass es wie das Gurren einer Schar Tauben klang. Und der Priester, den sie geleitet hatte, kam mit dem blutjungen Novizen durchs Portal gestürzt.
Seylana beobachtete sie, von abseits. Und als ihr Onager zu ihr gezuckelt kam und sie mit der behaarten Schnauze in die Schulter stupste, tätschelte sie ihn geistesabwesend.
Jetzt kam der älteste Priester, ein Mann mit einer Haut wie Leder und Augen wie Granaten. Er streckte die Hände aus und schloss seine starken, warmen Finger um die ihren.
»Wir haben das Tor geschlossen«, sprach er und meinte damit nicht, dass die Priester es getan hätten … sondern dass sie sie jetzt zu ihnen zählten.
Da sah Seylana, dass sie wie ein Qr-Schatten durch ihr Leben gegangen war, sich bloß durch ihren Verlust begriffen hatte. Aus freien Stücken, nein, könnte sie nie mehr zurück.
Draußen vor der Burg stimmte ein Vogel ein Lied an, und die ersten Sonnenstrahlen fielen durch die spitzen Fenster, die kein Laden verschloss. Da sanken die Priester einer nach dem anderen auf die Knie und streckten die Arme, die Hände zum goldenen Licht.
Und in Seylana erhob sich etwas, heil und stark, den neuen Tag zu grüßen. Sie fühlte sich nun nicht mehr leer, sondern überfließend von Kummer und Freude, Zorn und Zufriedenheit, gänzlich verwirrt durch die plötzliche Entdeckung, dass ihre kleine, halbe Seele irgendwie so gewachsen war, dass sie die ganze Welt erfüllte.